Ist COVID-19 schuld? Mehr Jungen entwickelten in der Pandemie Diabetes

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Ulmer Forschende werten große Diabetes-Datenbank aus

Die beobachtete Inzidenz von Typ-2-Diabetes bei Jugendlichen im Jahr 2021 in Deutschland übersteigt die prognostizierte Inzidenz um mehr als 40 Prozent. Der Anstieg ist in erster Linie auf einen überproportionalen Anstieg der Inzidenz bei heranwachsenden Jungen zurückzuführen (Abb: https://doi.org/10.2337/dc22-2257)

Während der ersten beiden Jahre der COVID-19-Pandemie ist es zu einem Anstieg der Typ 2-Diabetes-Fälle bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland gekommen, der im zweiten Pandemiejahr sogar signifikant war. Besonders betroffen waren Jungen. Dies zeigen Ulmer Forschende aus der Epidemiologie und der Kinder- und Jugendmedizin in einer neuen Studie, in der sie Daten einer der weltgrößten Patienten-Datenbanken für Diabetes ausgewertet haben. Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erscheint es naheliegend, dass Corona-Maßnahmen wie Schulschließungen und ein Verbot des Freizeitsports dabei möglicherweise eine wichtige Rolle gespielt haben. Erschienen ist die Studie in der renommierten Fachzeitschrift „Diabetes Care“.

Untersucht haben die Forscherinnen und Forscher des Instituts für Epidemiologie und medizinische Biometrie der Universität Ulm sowie der Sektion Pädiatrische Endokrinologie der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Ulm zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus Düsseldorf, Heidelberg, Witten/Herdecke, Greifswald und Berlin die Angaben in der Ulmer DPV-Datenbank. Diese Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation, die am Institut für Epidemiologie und Medizinische Biometrie der Universität Ulm gepflegt wird, ist eine der größten Diabetes-Patientendatenbanken der Welt. Aufgrund ihrer großen Abdeckung im Kindes- und Jugendalter erlaubt sie Analysen, die auf die ganze Bevölkerung rückschließen lassen.

„Wir konnten feststellen, dass das Auftreten von Diabetes mellitus Typ 2 bei Kindern und Jugendlichen 2021, also im zweiten Jahr der COVID-19-Pandemie, in Deutschland signifikant angestiegen ist und mehr als 40 % oberhalb des Erwartungswertes lag“, sagt Erstautor PD Dr. Christian Denzer, Oberarzt der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie der Uniklinik Ulm. Und Dr. Nicole Prinz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Epidemiologie und Medizinische Biometrie der Uni Ulm und Koordinatorin der Studie, fügt hinzu: „Bereits vor der Pandemie bestand der Trend zu steigenden Typ-2-Diabetes-Erkrankungen bei männlichen Jugendlichen. 2021 hat sich das Geschlechterverhältnis in Deutschland erstmals sogar umgekehrt und es erkrankten mehr Jungen als Mädchen.“

Die zugrundeliegenden Ursachen für dieses Phänomen sind noch unklar und sollten weiter erforscht werden. Neben klassischen Risikofaktoren wie Gewichtszunahme oder weniger körperlicher Aktivität, die durch Pandemiemaßnahmen noch verstärkt wurden, erscheinen auch direkte und indirekte Effekte einer SARS-CoV-2-Infektion denkbar. „Eine Möglichkeit ist, dass Diabetes als Komplikation einer akuten SARS-CoV-2-Infektion auftreten kann. Zudem zeigen neue Studiendaten, dass das Risiko für Diabetes auch in der postakuten Phase der Erkrankung bei erwachsenen und jungen Patientinnen und Patienten erhöht sein könnte“, so PD Dr. Christian Denzer.

Letztlich überraschte es die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wie unmittelbar deutlich die Zunahme gegenüber den Erwartungswerten auftrat: mit einer über 40 Prozent höheren Inzidenz im Kindes- und Jugendalter sowie einer 55 Prozent höheren Inzidenz bei Jungen. „Interessanterweise war das Ausmaß des Übergewichtes bei neudiagnostizierten Patienten nicht ausgeprägter als im präpandemischen Beobachtungszeitraum. Es liegt also nahe, dass insbesondere ein Mangel an körperlicher Aktivität und somit eine Verstärkung der Insulinresistenz eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Typ-2-Diabetes gespielt haben könnte“, erklärt Dr. Nicole Prinz. Weitere Beobachtungen (Häufigkeit der diabetischen Ketoazidose und des HbA1c-Wertes bei Manifestation) zeigten außerdem, dass sich die Dauer bis zur Diagnosestellung des Typ-2-Diabetes während der Pandemie wahrscheinlich nicht verlängert hat.

Als erstes Fazit ihrer Studie zu Typ-2-Diabetes im Kinder- und Jugendalter fordern die Autorinnen und Autoren, die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und die getroffenen Pandemie-Maßnahmen auf Kinder und Jugendliche intensiv zu untersuchen und kritisch zu bewerten. „Nur so könnten neue Strategien entwickelt werden, die helfen, vergleichbare Herausforderungen für das Gesundheitssystem - wie eine erneute Pandemie - besser zu bewältigen“, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Die Durchführung der Studie wurde unterstützt von der Deutschen Diabetes-Stiftung, dem Robert Koch-Institut und der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Ebenso ist die Veröffentlichung Teil des EU-Projekts SOPHIA (Stratification of Obese Phenotypes to Optimize Future Obesity Therapy) mit finanzieller Unterstützung durch die Innovative Medicines Initiative im Rahmen von Horizon 2020.

Über die Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation:
Die Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation (DPV), die am Institut für Epidemiologie der Uni Ulm seit 1995 kontinuierlich gepflegt wird, ist mit aktuell über 6,3 Millionen Datensätzen von knapp 700 000 Menschen mit Diabetes eine der größten Diabetes-Patientendatenbanken der Welt. Derzeit beteiligen sich über 500 diabetesspezialisierte Einrichtungen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Luxemburg an der DPV-Initiative. Aufgrund ihrer hohen Abdeckung auch im Kindes- und Jugendalter erlaubt sie populationsbasierte Analysen. Gefördert wird die DPV unter anderem durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Deutschen Zentrum für Diabetesforschung.

Publikationshinweis:
Is COVID-19 to Blame? Trends of Incidence and Sex Ratio in Youth-Onset Type 2 Diabetes in Germany. Christian Denzer, Joachim Rosenbauer, Daniela Klose, Antje Körner, Thomas Reinehr, Christina Baechle, Carmen Schröder, Susanna Wiegand, Reinhard W. Holl and Nicole Prinz for the DPV Initiative. Diabetes Care 2023;46(7):1379–1387
https://doi.org/10.2337/dc22-2257

Text und Medienkontakt: Daniela Stang